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Übergesetzlicher entschuldigender Notstand

 
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carn
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Anmeldungsdatum: 15.02.2006
Beiträge: 2872

BeitragVerfasst am: 27.02.06, 16:40    Titel: Antworten mit Zitat

Woher kommt eigentlich "Übergesetzlicher Notstand"?
Gesetzlich geregelt ist das ja wohl nicht, wuerde sonst nicht "uebergesetzlich" heissen.
Aber wie kann etwas was in keinem Gesetz steht Strafrechtlich Bedeutung haben?

Kann sich der Staat oder zumindest die Staatsdiener darauf berufen in solchen Extremfaellen wie 11.9.?
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jurico
FDR-Moderator


Anmeldungsdatum: 03.08.2005
Beiträge: 6123
Wohnort: Chemnitz

BeitragVerfasst am: 27.02.06, 22:25    Titel: Antworten mit Zitat

Als "übergesetzlich" bezeichnet man diesen Notstand, weil er gesetzlich nicht geregelt ist.

"Übergesetzlich" suggeriert vielleicht, der Notstand "schwebe" über dem Gesetz. Die Bezeichnung "außergesetzlicher Notstand" erscheint mir treffender, zeigt sie doch, dass diese Art Notstand die §§ 34; 35 StGB lediglich ergänzt.

Es kann also möglicherweise Notstandssituationen geben, die nicht von § 34 und auch nicht von § 35 StGB erfasst werden. Dem "Rechtsgefühl" kann in solchen Fällen eine bestimmte Rettungshandlung als nicht strafwürdig und / oder nicht strafbedürftig, als ungerecht erscheinen ("seine Tat ist zwar nach den Buchstaben des Gesetzes strafbar, er hat aber keine Strafe verdient").


Beispiel: Ein Pilot der Bundeswehr schießt trotz des vom BVerfG judizierten Verbotes ein mit 50 unbeteiligten Passagieren besetztes Renegade-Flugzeug ab. Er tut dies, um zu verhindern, dass das Flugzeug in ein Bankgebäude rast, wobei möglicherweise hunderte Menschen sterben würden. Stellen Sie sich nun vor, der Pilot stünde wegen seiner Tat vor Gericht (Totschlag, eventuell sogar Mord - Tötung "mit gemeingefährlichen Mitteln"?).


Lösungsansätze:

1. Das Vorliegen des Tatbestandes (§ 212 oder § 211 StGB) soll einmal unterstellt werden.

2. Ist das Verhalten des Piloten gerechtfertigt? Nein.

Eine Rechtfertigung gemäß § 32 StGB (Notwehr in Form der Nothilfe) scheidet aus, weil der "rechtswidrige Angriff" nicht von den unbeteiligten Passagieren ausgeht.

Ebenfalls scheidet eine Rechtfertigung gemäß § 34 StGB (rechtfertigender Notstand) aus: Man müßte hier ein Abwägung der 50 Leben (Passagiere) gegen die gefährdeten hunderte Leben (Menschen im Bankgebäude) vornehmen. Nach herkömmlicher Dogmatik ist jedoch eine Abwägung "Leben gegen Leben" unzulässig. Jedes Leben ist gleichwertig. Ein "wesentliches Überwiegen" des geschützten Interesses (vgl. § 34 S. 1 StGB) läßt sich also nicht feststellen.

3. Ist das Verhalten des Piloten wenigstens entschuldigt? Nach der gesetzlichen Regelung nicht.

An eine Entschuldigung gemäß § 35 StGB (entschuldigender Notstand) ist zu denken. Jedoch handelt der Pilot nicht, "um die Gefahr von sich, einem Angehörigen oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden" (§ 35 Abs. 1 S. 1 StGB), sondern er will "nur" die für ihn fremden Menschen in dem Bankgebäude schützen.

4. Und nun kommt der "übergesetzliche entschuldigtende Notstand" ins Spiel. Möglicherweise erscheint dem "Rechtsgefühl" eine Bestrafung des Piloten als ungerecht. Man kann nun überlegen, ob man § 35 StGB analog anwendet (Analogie zugunsten des Täters ist ja nicht verboten) oder den "übergesetzlichen Notstand" bemüht: Das Verhalten des Piloten läßt sich dann auch in den Fällen entschuldigen, in denen er die Tat zugunsten von fremden Dritten begeht.


Darüber lässt sich aber trefflich streiten.


Zitat:
StGB § 32 Notwehr
(1) Wer eine Tat begeht, die durch Notwehr geboten ist, handelt nicht rechtswidrig.
(2) Notwehr ist die Verteidigung, die erforderlich ist, um einen gegenwärtigen
rechtswidrigen Angriff von sich oder einem anderen abzuwenden.

StGB § 34 Rechtfertigender Notstand
Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib,
Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr
von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung
der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des
Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte
wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel
ist, die Gefahr abzuwenden.

StGB § 35 Entschuldigender Notstand
(1) Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib oder
Freiheit eine rechtswidrige Tat begeht, um die Gefahr von sich, einem Angehörigen
oder einer anderen ihm nahestehenden Person abzuwenden, handelt ohne Schuld. Dies
gilt nicht, soweit dem Täter nach den Umständen, namentlich weil er die Gefahr selbst
verursacht hat oder weil er in einem besonderen Rechtsverhältnis stand, zugemutet
werden konnte, die Gefahr hinzunehmen; jedoch kann die Strafe nach § 49 Abs. 1
gemildert werden, wenn der Täter nicht mit Rücksicht auf ein besonderes
Rechtsverhältnis die Gefahr hinzunehmen hatte.
(2) Nimmt der Täter bei Begehung der Tat irrig Umstände an, welche ihn nach Absatz 1
entschuldigen würden, so wird er nur dann bestraft, wenn er den Irrtum vermeiden
konnte. Die Strafe ist nach § 49 Abs. 1 zu mildern.

Eine gute Darstellung der Problematik des „übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes“ mit zahlreichen Fundstellen enthält das Lehrbuch: Kühl, Strafrecht Allgemeiner Teil, § 12 Rn. 92ff.
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carn
FDR-Mitglied
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Anmeldungsdatum: 15.02.2006
Beiträge: 2872

BeitragVerfasst am: 28.02.06, 11:01    Titel: Antworten mit Zitat

Wessen "Rechtsgefuehl" ist hier von Bedeutung?
Das des Richters, das des Staatsanwaltes oder das der Allgemeinheit(wie immer man das auch feststellt)?

Ist eine solche Milderung aufgrund des "Rechtsgefuehls" nur im Strafrecht denkbar oder kann das im Prinzip ueberall in entsprechenden Extremfaellen auftreten.

Z.b. an einem Tag sind bereits 2 Zivilflugzeuge entfuehrt und mit dem Ziel grossen Schaden anzurichten zum Absturz gebracht worden. Ein 3. eindeutig entfuehrtes Flugzeug(z.b. Abbruch des Funkkontaktes, Tiefflug um Radar zu entgehen, Kursaenderung auf bedeutendes Ziel) wird auf Anordnung der Regierung abgeschossen.
Es laesst sich nicht mehr beweisen, wer von den Passagieren das Flugzeug entfuehrt hat, aber bei bestimmten Passagieren gibt es zumindest Anhaltspunkte(Motiv, Flugausbildung, Gewaltbereitschaft) fuer eine Tatbeteiligung.

Koennte der Staat nun falls Hinterbliebene der wahrscheinlichen Taeter zivilrechtlich auf Schadensersatz klagen, vorbringen, dass es dem "Rechtsgefuehl" als ungerecht erscheint, wenn Schadenersatz fuer den Tod von Personen zahlen muss, die nach allem was man weis, Schwerstkriminelle bei der Ausfuehrung einer Tat waren, aber es leider nicht definitiv beweisen kann?
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jurico
FDR-Moderator


Anmeldungsdatum: 03.08.2005
Beiträge: 6123
Wohnort: Chemnitz

BeitragVerfasst am: 28.02.06, 11:22    Titel: Antworten mit Zitat

carn hat folgendes geschrieben::
Wessen "Rechtsgefuehl" ist hier von Bedeutung?
Das des Richters, das des Staatsanwaltes oder das der Allgemeinheit(wie immer man das auch feststellt)?

Zunächst das des Richters. Weil der in dem obigen Beispiel konkret über die Bestrafung des Piloten entscheidet.

Inhalt und Bedeutung des "Rechtsgefühls" müßten mal näher untersucht werden. Sie könnten doch dazu einen neuen Thread eröffnen. Winken

carn hat folgendes geschrieben::
Ist eine solche Milderung aufgrund des "Rechtsgefuehls" nur im Strafrecht denkbar oder kann das im Prinzip ueberall in entsprechenden Extremfaellen auftreten.

Ich denke, das Rechtsgefühl spielt in jedem Rechtsgebiet eine Rolle. Wenn man bei der Lösung eines Rechtsproblems an eine Stelle kommt, wo man denkt: "Moment, kann denn das sein?", dann wird man versucht sein, wenn der Gesetzeswortlaut nicht weiterhilft, auf allgemeine (Rechts-)Prinzipien zurückzugreifen. Ob und inwieweit das zulässig ist, ist eine andere Frage. Eine zivilrechtliche "Notbremse" ist z. B. § 242 BGB (Treu und Glauben).

carn hat folgendes geschrieben::
Koennte der Staat nun falls Hinterbliebene der wahrscheinlichen Taeter zivilrechtlich auf Schadensersatz klagen, vorbringen, dass es dem "Rechtsgefuehl" als ungerecht erscheint, wenn Schadenersatz fuer den Tod von Personen zahlen muss, die nach allem was man weis, Schwerstkriminelle bei der Ausfuehrung einer Tat waren, aber es leider nicht definitiv beweisen kann?

Nach der sog. Unschuldsvermutung gilt ein Beschuldigter so lange als unschuldig, wie nicht das Gegenteil ("schuldig") bewiesen ist. Ich denke, das von Ihnen beschriebene Vorbringen wäre dem Staat aus diesem Grund verwehrt.
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