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Kindergarten und Tablettengabe
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Risus
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Anmeldungsdatum: 25.04.2006
Beiträge: 1167
Wohnort: Düsseldorf reloaded

BeitragVerfasst am: 13.07.07, 11:20    Titel: Antworten mit Zitat

Vorsicht Überlänge!

Hallo Klaus,
ein dickes Dankeschön für Deine viele Mühe beim Recherchieren und Verlinken. Einer der positiven Aspekte eines Forums ist es, dass man auch dann Nutzen davon hat, wenn man - wie ich - nur Gast im einem Thread ist, dessen Ausgangsfrage jemand anders gestellt hat. Winken

Durch Deine Erklärungen sind mir vorallem nochmal die Entscheidungsbäume und Strukturen klarer geworden, welche zu der gegenwärtigen Situation im o.g. Fallbeispiel führen.

Was ich sonst noch persönlich aus diesem Thread mitgenommen bzw. bestätigt gefunden habe, nochmal kurz zusammengefasst:

1.
Anhand der gegenwärtig bestehenden Gesetze, Verordnungen und Dienstanweisungen gibt es keine juristische Handhabe für Eltern, die Ausgabe von Medikamenten durch ErzieherInnen in Kindertagesstätten zu verlangen.

2.
Die Ausgabe von Medikamenten kann derzeit nur mittels einer privatrechtlichen Vereinbarung mit haftungsbefreiender Wirkung zwischen den Eltern und der Einrichtung erreicht werden, wahlweise durch Beifügung einer ärztlichen Bescheinigung über die aktuelle Medikation.

3.
Das Hilfskonstrukt, gar eine ärztliche "Verordnung" anstelle einer blossen Bescheinigung über die aktuelle Medikation für die Medikamentenausgabe in der KiTa vom Arzt einzufordern, geht an der geltenden Rechtslage vorbei.
Zum Einen sind Kindertagesstätten sozialrechtlich weder an ein Attest noch an eine ärztliche Verordnung gebunden. Zu Anderen darf der Arzt auch eigentlich nur "verordnen", was gesetzlich auch verordnungsfähig ist.

Den meisten Ärzten ist sowohl das Dilemma der Eltern als auch das der ErzieherInnen gut bekannt. Gleichzeitig besteht aber ein starkes Interesse an einer adäquaten Versorgung der Kinder mit den erforderlichen Medikamenten, weshalb dann häufig eben nicht nur eine Bescheinigung, sondern eine "Pseudo-Verordnung" für die Medikamentenausgabe in der KiTa ausgestellt wird, die sozialrechtlich dennoch lediglich die Kraft einer Bescheinigung hat.
Das Ganze ist lediglich ein Verwaltungsakt mehr für KiTa, Eltern und Ärzte, welcher die Beteiligten unnötig Zeit und Ressourcen kostet.

Aus den gleichen Gründen würden viele Ärzte notgedrungen auch eine Verordnung oder medizinischen Unbedenklichkeit über die Ausgabe von Vollkorn-Keksen durch ErzieherInnen ausstellen, falls es dem Träger einer KiTa irgendwann einfällt, diese zu fordern. Schliesslich kann man sich an den Krümeln auch verschlucken. Mit den Augen rollen

4.
Es gibt offensichtlich Dienstanweisungen einiger Jugendämter, welche die Ausgabe ohne Vorliegen einer ärztlichen "Verordnung" sogar untersagen.

5.
Der einzige mir bekannte Anhaltspunkt für die Meinung des Gesetzgebers oberhalb der Dienstanweisung der Jugendämter, welche ein Verbot der Medikamentenausgabe durch ErzieherInnen rechtfertigen könnte, ist das von mir weiter oben genannte Urteil des BGH.
Danach ist (im allgemeinen sozialrechtlichen Sinn) eine Medikamentenausgabe nicht Teil der Grundpflege, sondern der Behandlungspflege. Behandlungspflege wiederum darf im Rahmen eines Dienstverhältnisses wohl nur durch entsprechend qualifiziertes Personal erbracht werden, zumindest jedoch unter dessen ständiger Aufsicht.

6.
Jenseits der Frage der finanziellen Abrechenbarkeit solcher Leistungen durch die Leistungserbringer steht doch wohl ausser Zweifel, dass es für die Ausgabe von (mitgebrachten) Medikamenten nach einem vorgegebenen, festen Schema keine Person braucht, welche besondere medizinische Fachkenntnisse besitzt, sondern welche lediglich etwas gesunden Menschenverstand und Zuverlässigkeit besitzen muss.

Mangelnde medizinische Kenntnisse der Erzieherinnen gefährden jedenfalls mit der Verabreichung mitgebrachter Medikamente nicht das Kindeswohl. Ansonsten bestünde der gleiche Tatbestand ja auch bei Verabreichung der Medikamente durch die Eltern!

7.
Das Kindeswohl wird m.E. vielmehr durch die gegenwärtigen Praxis vieler KiTas gefährdet!
Eine ganze Reihe von Kindern würden durch die Regelungen entweder von der Teilnahme an integrativen Fördermassnahmen ausgeschlossen, oder aber die tageszeitliche Verteilung der erforderlichen Medikamentengabe muss im Sinne eines schlechten Kompromisses auf ausserhalb der KiTa-Zeit gelegt werden, was den medizinischen Erfordernissen häufig nur bedingt gerecht wird und eine optimale Behandlung behindert.

8.
Dem (verständlichen) Schutzbedürfnis von weisungsbefugten Jugendämtern, aber auch von KiTa-Mitarbeitern wird bereits durch die derzeit geltende Rechtslage ausreichend entsprochen.

Wie z.B. die Landesunfallkasse NRW betont:
LUK NRW hat folgendes geschrieben::
Bei der Medikamentengabe handelt die Erzieherin in guter Absicht und im Interesse des Kindes.
Wenn eine Erzieherin während der Arbeit ein Kind oder eine Kollegin verletzt, muss sie für diesen Schaden i.d.R. nicht aufkommen, es sei denn, dass sie diesen Schaden vorsätzlich herbeigeführt hat.

§ 105 SGB VII hat folgendes geschrieben::
Personen, die durch eine betriebliche Tätigkeit einen Versicherungsfall von Versicherten desselben Betriebs verursachen, sind diesen und deren Angehörigen und Hinterbliebenen nach anderen gesetzlichen Vorschriften zum Ersatz des Personenschadens nur verpflichtet, wenn sie den Versicherungsfall vorsätzlich […] herbeigeführt haben

Der Unfallversicherungsträger kann bei der Erzieherin nur dann Regress nehmen, wenn sie vorsätzlich oder grob fahrlässig gehandelt hat.
§ 110 SGB VII hat folgendes geschrieben::
Haben Personen, deren Haftung nach den §§ 104 bis 107 beschränkt ist, den Versicherungsfall vorsätzlich oder grob fahrlässig herbeigeführt, haften sie den Sozialversicherungsträgern für die infolge des Versicherungsfalls entstandenen Aufwendungen, jedoch nur bis zur Höhe des zivilrechtlichen Schadenersatzanspruchs

Die Rechtsfolgen einer wie oben beschriebenen Medikamentengabe durch Erziehrinnen ist in diesem Sinn unserer Meinung nach vergleichbar mit z. B. der Ausübung von Erster-Hilfe-Maßnahmen:
„Handelt der Erst-, Evakuierungs- und Brandschutzhelfer nach bestem Wissen und Gewissen und leistet er – seinen Fähigkeiten entsprechend – die ihm bestmögliche Hilfe, so braucht er grundsätzlich weder mit zivilrechtlichen noch mit strafrechtlichen Konsequenzen zu rechnen, die sich nachteilig für ihn auswirken. Selbst wenn ihm bei der Hilfeleistung ein Fehler unterlaufen sollte, bleibt er straf- und haftungsfrei, da er in jedem Fall seine Hilfe leistete, um anderen zu helfen“ („Rechtsfragen bei Erster Hilfe“, GUV-I 8512, bisher GUV 20.42).


Puhh,
ein langer Text ist das wieder geworden.
Aber wie immerbei vielschichtigen Sachverhalten mit zahlreichen Facetten, und zudem ohne einschlägige Gerichtsurteile, lässt sich das Ganze nicht in zwei oder drei Worten sagen.

Zum Glück haben die meisten Mäuse ja eine Scrollfunktion... Winken

Freundliche Grüsse
Risus
_________________
Die Zukunft hält grosse Chancen bereit - aber auch Fallstricke.
Der Trick dabei ist, den Fallstricken aus dem Weg zu gehen, die Chancen zu ergreifen. Und bis 6 Uhr wieder zuhause zu sein.
[ Woody Allen ]
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Anmeldungsdatum: 09.12.2006
Beiträge: 11996

BeitragVerfasst am: 13.07.07, 15:13    Titel: Antworten mit Zitat

Hallo Risus,

insgesamt stimme ich Dir auch zu, aber hierzu möchte ich kurz etwas erwidern:

Risus hat folgendes geschrieben::
...
7.
Das Kindeswohl wird m.E. vielmehr durch die gegenwärtigen Praxis vieler KiTas gefährdet!
Eine ganze Reihe von Kindern würden durch die Regelungen entweder von der Teilnahme an integrativen Fördermassnahmen ausgeschlossen, oder aber die tageszeitliche Verteilung der erforderlichen Medikamentengabe muss im Sinne eines schlechten Kompromisses auf ausserhalb der KiTa-Zeit gelegt werden, was den medizinischen Erfordernissen häufig nur bedingt gerecht wird und eine optimale Behandlung behindert. ...

Andrea Menke, Landesunfallkasse NRW hat folgendes geschrieben::
... Wichtig ist, dass man gemeinsam mit den Eltern zu einer Lösung kommt, die für das Kind gut, aber auch für die Erzieherinnen während ihrer Arbeit durchsetzbar und leistbar ist.

Aber: Die Medikamentengabe durch Erzieherinnen ist auf besondere Ausnahmefälle zu beschränken!

Nur medizinisch unvermeidliche und organisatorisch nicht auch durch die Erziehungsberechtigten durchführbare Medikamentengaben sollten durch die unterwiesene Erzieherin erfolgen. ...
Quelle: Thema des Monats Mai 2004: Medikamentengabe durch Erzieherinnen und Erzieher (aktualisiert April 2006)

Die Dienstanweisungen und die rechtlichen Regelungen stützen diese Empfehlung. Auf der gleichen Seite steht ein Beispiel eines Formulars zur Medikamentenverabreichung - (PDF-Datei) bereit. Liegt diese - mit der Unterschrift des Arztes - dem Kindergarten vor, dann wird sich kein Kindergarten oder Kindertagesstätte quer stellen (vgl. auch Arbeitshilfe: Informationsblatt zur Medikamentengabe in Kindertageseinrichtungen (2006)). Gerne würde ich noch auf das Münchhausen-by-proxy-Syndrom eingehen. Aber bevor häschen das jetzt auf sich bezieht - lasse ich dies mal lieber. Winken

Ausrufezeichen Vereinzelt versuchen Eltern einen Kindergarten mit in das Problem einzubeziehen, indem sie erwarten, daß der Kindergarten die "Selbstmedikation der Mutter/Vater an ihrem Kind" fortsetzen. Daher stellt eine ärztliche Verordnung immer auch eine Entlastung der Eltern dar. Streng genommen wird der Kindergarten vom Arzt beauftragt die Medikation eines Kindes im Kindergarten vorzunehmen. Er steht bei einer Verordnung mit in der Verantwortung und ist bei Notfällen der erste Ansprechpartner für den Kindergarten, Notarzt oder Krankenhaus. Daher ist auch die Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht zu diesem Zweck erforderlich. Diese Regelung dient dem Kindeswohl. Winken

Mit den letzten Änderungen des SGB VIII - insbesondere mit der Einführung des § 8a SGB VIII - hat der Kindesschutz vorrang vor dem Elternrecht erhalten. Dies ist m.E. mit Artikel 6 Absatz 2 GG vereinbar. Ferner ist klar gestellt worden, daß ebenso Einrichtungen und Dienste der Jugendhilfe auf eine mögliche Kindeswohlgefährdung durch die Eltern zu achten haben (vgl. DV 04/06 AF II - Empfehlungen des Deutschen Vereins zur Umsetzung des § 8 a SGB VIII vom 27. September 2006 (PDF-Datei) ).

Auf die Pressemeldung des BMJ: Besserer Schutz für gefährdete Kinder - (11. Juli 2007) - und dem Gesetzentwurf: RegE - Gefährdung Kindeswohl (Pdf-Datei) - habe ich weiter oben hingewiesen. Von der geplanten Gesätzesänderung werden vor allem die §§ 1666 (Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls) und 1666a (Grundsatz der Verhältnismäßigkeit; Vorrang öffentlicher Hilfen) BGB betroffen sein und Gegenstand der öffentlichen Diskussion werden. Die Fachdiskussion darüber ist im Gange. Kern dieser Änderung ist eine schnellere Information und Einbeziehung der Familiengerichte bei dem Verdacht einer Kindeswohlgefährdung (Vertiefend: Kindeswohlgefährdung und ASD).

Zur Zeit läuft eine Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen (KiGGS).

Das KiGGS-Projektteam im Robert Koch-Institut hat folgendes geschrieben::
Ziele der Studie

Der Kinder- und Jugendgesundheitssurvey (KiGGS) ist eine Studie des Robert Koch-Instituts zum Gesundheitszustand von Kindern und Jugendlichen im Alter von 0-17 Jahren. Ziel der Studie ist es, umfassende Daten zur gesundheitlichen Lage von Kindern und Jugendlichen in Deutschland zu erheben, zu analysieren und die Ergebnisse an die Politik, die Fachwelt und die allgemeine Öffentlichkeit weiter zu geben. Die Ergebnisse sollen dazu beitragen, den Wissensstand über den Gesundheitszustand der Kinder und Jugendlichen in Deutschland zu verbessern. Sie sollen helfen, Problemfelder und Risikogruppen zu identifizieren, Gesundheitsziele zu definieren und Ansätze für Hilfsmaßnahmen (Interventionen) und Vorbeugung (Prävention) zu entwicklen und umzusetzen.

Erste Ergebnisse liegen mittlerweile vor. Ausgangsfrage war die rechtliche Situation bezüglich der Tablettenabgabe in Kindergärten. Die (jetzige) rechtliche Situation habe ich aufgezeigt. Der Perspektivwechsel bezüglich des "staatlichen Wächteramtes" nach Art. 6 Abs. II ist in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen worden. Mit der geplanten Änderung im BGB und der Umsetzung der Erkenntnisse aus der KIGGS-Studie wird sich langfristig auch die Arbeit in den Kindergärten ändern. Winken

Liebe Grüße

Klaus
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Dipl.-Sozialarbeiter
FDR-Moderator


Anmeldungsdatum: 09.12.2006
Beiträge: 11996

BeitragVerfasst am: 14.07.07, 22:21    Titel: Antworten mit Zitat

häschen hat folgendes geschrieben::
... Liebe Grüße, ein schönes Wochenende Dir, mein lieber Klaus!!!! ... Winken häschen

Verlegen - Wenn dies jetzt mal nicht zu einer 'virtuellen' Eifersucht und Gerüchten im Forum führt. Lachen
__________________________________________________

Hallo häschen,

bei der Tablettenfrage war es mir wichtig, das rechtliche Geflecht rund um diese scheinbar zunächst einfache Frage aufzuzeigen. Kindertageseinrichtungen haben, neben dem "... eigenen Betreuungs-, Erziehungs- und Bildungsauftrag ...." (vgl. § 4 KiTaG - SH), seit 2005 den Schutzauftrag der Jugendhilfe nach § 8a SGB VIII zu beachten. Fälle wie dieser hier - Sehr böse - dürfte es nach der geänderten Rechtslage eigentlich nicht mehr geben.

häschen hat folgendes geschrieben::
... den ErzieherInnen des Kindergarten fehlt hierfür die medizinische Kompetenz. ...

Leider fehlt einigen Erzieherinnen nicht nur in diesem Bereich eine gewisse Grundkompetenz. Winken

Die Diskussion über die (richtige) Medikation bei AD(H)S ist nicht in einem Rechtsforum führbar. Aber zu diesem Themenbeich verweise ich dich sehr gerne auf unser Schwester-Forum. Lachen

Ich danke dir für die faire Diskussion. Wir lesen uns bestimmt wieder. Winken

Liebe Grüße

Klaus
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