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Ich bin voellig naiv, oder?

 
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carn
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Anmeldungsdatum: 15.02.2006
Beiträge: 2872

BeitragVerfasst am: 09.11.07, 15:20    Titel: Ich bin voellig naiv, oder? Antworten mit Zitat

Habe diesen Artikel ueber die Broken-Windeow Theorie gelesen:
http://netzwerk.wisis.de/text/335.htm

2 Passagen fielen mir ins Auge:
"Dieser Umstand macht die Broken-Window-Theorie für die Praxis tauglich, gebrauchsfähig („utilitaristisch“). Sie ist nicht unbedingt ein Geniestreich der modernen Soziologie, weil sie Hintergründe von Aggression, Gewalt usw. völlig außer Acht lässt. „Das Konzept der ‚zerbrochenen Fenster’ reduziert komplexe Theorien von der Ätiologie der Gewalt. Ursache der Gewalt ist, kurz gesagt, der Gewalttäter. […] Die Broken-Window-Theorie steht damit den orthodoxen ‚root causes’-Theorien der 60er, 70er und 80er Jahre (Armut, Arbeitslosigkeit, soziale Ungleichheit etc. als ‚tiefere Ursachen’) in einem krassen Gegensatz entgegen.“ "

Das erweckt den Eindruck der Gedanke dass die Ursache der Gewalt im wensentlichen der Gewalttaeter ist, sei eine naive Dummheit.

"Um es im Vergleich deutlich zu machen: Ob es um die Kaufentscheidung für ein Auto oder um die Entscheidung geht, ein fremdes Auto aus Spaß zu zerkratzen - der Entscheidungsprozess, der sich im Kopf abspielt ist der Gleiche: Ich wiege die realen Kosten mit den Opportunitätskosten für mein Handeln ab. Sind die realen Kosten sowohl für das Auto als auch für das Beschädigen eines Autos „bezahlbar“ oder noch besser „gering“, werde ich das Auto kaufen, bzw. werde ich das Auto beschädigen. Sind sie zu hoch bzw. sind die Opportunitätskosten weit reizvoller, kann ich mir die Handlung (Kauf oder Beschädigung) also „nicht leisten“, werde ich von Kauf bzw. Beschädigung Abstand nehmen. "

Diese Passage erweckt den Eindruck, die Vorstellung sei eine naive Dummheit, dass Menschen sich oft vor einer Straftat Gedanken machen, ob die Straftat denn das fuer sie gewuenschte Ergebnis bewirkt(z.b. reicher sein, aber nicht von der Polizei erwischt werden und im Knast landen), und das Ergebnis dieses Entscheidungsprozesses(der natuerlich nicht rational oder sachlich sondern auch sehr emotional sein kann) beeinflusst, ob sie wirklich die Tat begehen.

Nun erscheinen mir beide Vorstellungen, wenn auch nicht ausschliesslich als wahr, doch als zum grossen Teilen zutreffend, ich glaube wirklich, dass Menschen versuchen die aus ihrer Sicht beste Wahl zu treffen und dass die Gewalt erstmal vom Gewaltaeter verursacht wird.

Bin ich aus rechtstheoretischer Sicht naiv?
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Andreas Hüttig
FDR-Moderator


Anmeldungsdatum: 11.07.2007
Beiträge: 899

BeitragVerfasst am: 09.11.07, 17:06    Titel: Antworten mit Zitat

Ich kann das jetzt nicht aus rechtstheoretischer Sicht beleuchten, will aber dennoch einen Kommentar dazu abgeben, so wie ich das sehe:
Beide Theorien sind untersucht und bestätigt worden. Das wird in dem Artikel ja auch nicht bestritten. Dennoch betrachten sie nur eine Seite des Problems, was sie fehleranfällig macht.

Nehmen wir das Beispiel eines Würfels. Sie würfeln einmal und würfeln eine 1. Jetzt stellen sie die Theorie auf, das man mit jedem Würfel eine 7 Würfeln kann, wenn man auf den Würfelwurf immer 6 addiert.
Die Theorie ist vollkommen korrekt, aber effektiver wäre es auch die anderen Seiten (2-5) zu betrachten und für die Fälle das keine 1 kommt andere Regeln aufzustellen, so daß man "immer" eine 7 würfelt.

Jetzt übertragen wir das mal auf das Beispiel des fensterzerschmeißenden Jugendlichen. Ja, wenn es ein kaputtes Fenster gibt, wird der wahrscheinlicher ein Fenster zerschmeißen. Dementsprechend senkt ein reparieren des Fensters die "Steinwurfrate". ABER es gibt noch viele andere Gründe (Seiten) warum ein Jugendlicher Fenster einschmeist (wie schlechte Kindheit etc.), weswegen mit diesem vorgehen nicht alle Steinwürfe abgedeckt werden.

Da sie ja selber sagen, das es "in einem Großteil der Fälle" zutrifft, sind sie sich bewußt, das es noch andere Gründe gibt. Wenn sie diese nicht aus den Augen verlieren handeln sie nicht naiv.
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FDR-Mitglied
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Anmeldungsdatum: 14.02.2005
Beiträge: 6312
Wohnort: Mein Körbchen.

BeitragVerfasst am: 04.12.07, 14:22    Titel: Antworten mit Zitat

Das zentrale Problem der Soziologie ist eine oftmals im Ergebnis latent unsoziale Haltung der Soziologen. Smilie

Ähnlich wie im Fall der Psychologie können viele der statistisch-tendenziellen Ergebnisse der Soziologie als Wissenschaft nur extrem schwer und mit extremem Fehlerpotential ohne intensivste und zeitraubendste Prüfungen auf den Einzelfall in der Praxis übertragen werden. Das führt allerdings dazu, dass der Soziologe praktisch jede seiner Aussagen zu Einzelfällen und zur Anwendung seiner Konzepte auf Einzelfälle mit "Vielleicht ist es so, wie ich sage und meine Lösung hilft....oder mit einer größeren Wahrscheinlichkeit auch nicht!" abschließen müsste.

Kann er das? Na klar. Will er das? Natürlich nicht. Denn die soziale Lösung ("Wahrheit") ist unpopulär und damit wäre seine persönliche Nützlichkeit und sein Sozialprestige massiv reduziert.

Was hat das für eine Bedeutung für unser Thema?

Die Soziologie konzentriert sich bei der Hintergrundforschung im Hinblick auf Ursachen von unsozialen Verhaltensweisen auf die statistischen Daten. Der Umgang mit diesen Daten erfolgt allerdings selbst auf "hoher" wissenschaftlicher Ebene oft unseriös.

So wird - salopp formuliert - z.B. aus der statistischen Erkenntnis, dass Menschen aus sozial problematischem Milieu öfters zu bestimmten typischen Formen von Straftaten tendieren, geschlossen, dass diesen auch "keine Wahl bliebe" und so die Tat weit weniger schlimm wenn nicht gar völlig unvorwerfbar sei. So wird im Endeffekt der "freie Wille" kleingeredet und - nichts anderes ist es - vom Umstand, wie der Mensch *ist* (=statistischer Durchschnitt) darauf geschlossen, dass er gar nicht besser sein kann, wenn er nur wöllte. Wenn die These uneingeschränkt wahr wäre, dann wäre die moderne Zivilisation mit ihren Werten und Maßstäben allerdings nie entstanden.

Regelmäßig ist den besagten Personen immerhin durchaus klar, dass die besagten Verhaltensweisen unzulässig sind und für das Opfer gravierende Folgen haben. Eine Vielzahl von Personen mit dem gleichen Hintergrund hättein vergleichbaren Situationen auch vom unsozialen Verhalten abgesehen. Die Wahrheit liegt vielmehr darin, dass aus abstrakt-genereller Perspektive die *Hemmschwelle* für besagte Täter geringer ist und die subjektive Wertigkeit des kriminellen Erfolges höher ist (100 € sind z.B. emotional für jeden ein unterschiedlich hoher Betrag) und daher statistisch die Betreffenden öfter unsoziale Verhaltensweisen bestimmter Art zeigen, als andere. All das ändert aber an genau einem Moment absolut gar nichts: Der Betreffende wussste, dass es eine Linie des Verbotenen gibt und er hat sich bewußt und ohne inneren Zwang dazu entschlossen, diese zu überschreiten. Und das ist in a nutshell der Punkt, an dem Recht anknüpft in dem es Regeln für *Jedermann* aufstellt. "Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich" ist insoweit eine interessante Aussage, die durchaus auch harte Konsequenzen haben kann.

Und nun stellen wir uns die Schlüsselfrage zur Theorie:

Prägt das Umfeld also die Bereitschaft, bewußt die Grenze zum Verbotenen zu überschreiten? Antwort: Na klar macht sie es. Das Argument "Aber die Anderen haben doch auch...." ist eines der naheliegendsten und selbstverständlichsten überhaupt. Und genau das Selbe gilt in umgekehrter Richtung: Je stärker die Signale, dass ein bestimmtes Verbot wichtig ist/wichtig genommen wird, desto stärker faktisch die Bereitschaft, sich daran zu halten. Hat das aber Einfluss auf die zentrale Grundfrage: Wusste der Täter im Moment der Tat etwa nicht, dass sein Verhalten verboten und sozial schädlich ist? Antwort: Klar wusste er es und es war ihm egal genug, um die Tat trotzdem zu begehen.
_________________
Few people are capable of expressing with equanimity opinions which differ from the prejudices of their social environment. Most people are even incapable of forming such opinions.
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