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Sezessionsrecht (Georgien-Problematik)

 
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Abrazo
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Anmeldungsdatum: 30.05.2005
Beiträge: 5941
Wohnort: Köln

BeitragVerfasst am: 30.08.08, 23:52    Titel: Sezessionsrecht (Georgien-Problematik) Antworten mit Zitat

Zitat:
Von Otfried Höffe, Philosoph Uni Tübingen:

Ein etwaiges Sezessionsrecht hängt vom Selbstbestimmungsrecht der Völker ab. Verstanden als die Befugnis, sich nach innen und aussen frei zu gestalten, sowohl in politischer als auch wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Hinsicht, ist das Selbstbestimmungsrecht ein rechtsphilosophisch so überzeugendes Prinzip, dass es in das geltende Völkergewohnheitsrecht eingegangen ist. Durch Artikel 1, 1 der beiden Internationalen Menschenrechtspakte vom Jahr 1966 und vorher schon durch die Charta der Vereinten Nationen (Artikel 1, 2) ist es sogar zu einem vertraglich vereinbarten «Grundsatz» geworden. Mehr als nur ein politisches Programm, hat es den Rang eines zwingend anzuwendenden Rechts erhalten. Angefangen mit der Frage, was denn jenes Volk ist, dem das Recht zusteht, ist aber die gehenauere Bedeutung, sind Gehalt und Tragweite des Grundsatzes umstritten.


Offensive Selbstbestimmung
Mancherorts denkt man bei den Ausdrücken «Volk» und «Nation» vornehmlich an eine gemeinsame Abstammung. Der Ausdruck «Nation» ist zwar wortgeschichtlich auf Geburt und Herkunft bezogen. Im Verlauf der Geschichte verweisen die Ausdrücke «Volk» und «Nation» aber mehr auf politische Handlungseinheiten als auf eine biologisch gemeinsame Herkunft. Setzt man daher das Volk mit der Civitas, der Bürgerschaft eines bestehenden Staates, gleich, schränkt man sich auf die schon staatlich organisierten Völker ein, und das Selbstbestimmungsrecht verliert einen eigenen Gehalt. Es fasst nur noch die anderen Völkerrechtsgrundsätze zusammen: die äussere Souveränität der Staaten, ihre Gleichheit und das Gewaltverbot. Vom Alexanderreich über Rom bis zum Russischen Reich und zu Österreich besteht aber die politische Einheit, das Volk als Staatsvolk, aus nach Sprache, Religion und Kultur verschiedenen Völkern. Zerfallen derart heterogene Staaten, so hinterlassen sie Gemengelagen, die seit dem 19. Jahrhundert die Frage nach einem etwaigen Sezessionsrecht provozieren.

Noch das erweiterte Selbstbestimmungsrecht ist nur defensiv gemeint. Es widersetzt sich Angriffen von aussen und verteidigt das Eigene. Zu einem offensiven Selbstbestimmungsrecht, einem Sezessionsrecht, öffnet es sich erst, wenn die Verteidigung des Eigenen als nicht anders möglich erscheint. Das geltende Völkerrecht lehnt jedoch diese Öffnung ab, die radikale Unabhängigkeitserklärung schliesst es als eine «die Einheit und territoriale Integrität» eines Staates zerstörende Kraft aus.

Man könnte die Ablehnung für einen Widerspruch im Völkerrecht halten, da ein ernsthaftes Selbstbestimmungsrecht die Befugnis einschliesse, im Fall eines Scheiterns aller anderen Versuche zum Sezessionsrecht zu greifen. Man könnte es auch für einen Konstruktionsfehler des Völkerrechts halten, da sein erster Grundsatz, das Souveränitätsprinzip, die historisch zufälligen Staatsbildungen für unantastbar erkläre, obwohl doch nur Menschen schlechthin schützenswert seien. Treffender ist es, hinter der Skepsis gegen ein Sezessionsrecht eine Aufgabe zu erkennen, die den letztlich allein schützenswerten Subjekten, den Menschen, zugutekommt. Es ist die Friedensaufgabe des Völkerrechts.

Ultima Ratio
Wegen der Friedenssicherung ist es vernünftig, ein Sezessionsrecht in den Hintergrund zu drängen und stattdessen für eine möglichst weit gehende, aber staatsinterne Autonomie zu plädieren:

Das betreffende Volk (im sprachlichen, religiösen, kulturellen oder ethnischen Sinn) erhält das Recht, seine Grundentscheidungen, etwa über die Amts- und die Verkehrssprache, über Kultur, Bildung und Ausbildung, ohnehin über die Religion oder Konfession, selber zu treffen; es muss jedoch im übergreifenden Staatsverband verbleiben. Erst wenn eine berechtigte Forderung nach Autonomie auch nach längerem Drängen nicht erfüllt wird, legt sich eine erneute Ausweitung des Selbstbestimmungsrechtes nahe, der Übergang von dem zwar weiten, aber immer noch defensiven zum offensiven Verständnis: Das betreffende Volk erhält die Befugnis, sich aus einem gegebenen Staatswesen herauszulösen und dafür einen Teil des Territoriums zu beanspruchen.

Die Befugnis ist allerdings an strenge Bedingungen geknüpft. Man stelle sich vor, in einem bisher armen und von den anderen weitgehend alimentierten Teil eines Staates wird ein kostbarer Rohstoff wie Erdöl entdeckt. Verlangt dieser Teil nur deshalb die Sezession, weil er seinen neuen Reichtum für sich allein behalten will, so kündigt er unfairerweise eine Solidaritätsgemeinschaft auf. Offensichtlich wäre das Vorgehen – solange man profitiert, bleibt man Mitglied, sobald die anderen profitieren, scheidet man aus – rechtsmoralisch verwerflich.

Wird aber das defensive Selbstbestimmungsrecht systematisch und andauernd missachtet, sind überdies Versuche friedlicher Streitschlichtung gescheitert, so wird eine Sezessionsbefugnis vertretbar. Als Ultima Ratio einer kollektiven Selbstverteidigung, mithin als Notwehr in einer Extremsituation, hätte der betreffende Teil des Staates das Recht, sich aus dem bisherigen Verband zu lösen und auf einem Teilterritorium ein eigenes Staatswesen zu gründen oder auch sich mit dem Teilterritorium einem anderen Staat anzuschliessen.

Das Stichwort der Ultima Ratio gibt schon zwei Kriterien an die Hand: Wegen ihres Ausnahmecharakters bedarf die Sezession erstens einer aussergewöhnlichen Rechtfertigung und trägt dafür die Beweislast. Zweitens müssen alle anderen, weniger einschneidenden Mittel wie der Minderheitenschutz oder eine föderale Koexistenz ernsthaft versucht und schliesslich gescheitert sein. Auf ein drittes Kriterium verweist das Gedankenexperiment Erdölfund: Ein funktionierendes Gemeinwesen darf nicht zum einseitigen Vorteil des die Sezession Begehrenden aufgebrochen werden. Zwei weitere Kriterien verstehen sich von selbst: Es sind grundlegende individuelle Freiheitsrechte anzuerkennen. Und der sich Abspaltende muss, im Einklang mit den Prinzipien, auf die er sich beruft, seinerseits – gerechtfertigte – Sezessionen im neuen Gemeinwesen zulassen.

Schwierige Abgrenzungsfragen
Sucht man ein Beispiel für die im Prinzip legitime Sezession, so bietet sich die Unabhängigkeitserklärung der USA an: Die damals noch «Dreizehn Vereinigten Staaten» begründen ihre Unabhängigkeit mit drei rechtsmoralisch unstrittigen Prinzipien: mit unveräusserlichen (Menschen-)Rechten, mit der Aufgabe einer Regierung, diese Rechte zu sichern, und mit dem Recht, sogar der Pflicht, nach einer langen Reihe von Übergriffen für die Sicherung der Rechte neue Wächter zu bestellen. Rechtsmoralisch entscheidend ist die evidente und eklatante Verletzung fundamentaler Menschenrechte.

Die Sezession als Antwort auf eine sowohl gravierend als auch andauernd ungerechte Herrschaft, wie im Fall der Loslösung vom englischen Mutterland, ist unstrittig legitim. Dasselbe trifft auf eine zweite Gruppe von Fällen zu, auf die Sezession als Antwort auf Fremdherrschaft infolge von Annexion oder Kolonisierung. Hier taucht allerdings die schwierige Abgrenzungsfrage auf, wie weit in die Vergangenheit man zurückgehen darf, denn so gut wie überall stösst man irgendwann auf eine gewaltsame Kolonialisierung oder Annexion.

Wegen der schwierigen Abgrenzungsfragen braucht die Anwendung eines Sezessionsrechts nicht bloss ein hohes Mass an Urteilsfähigkeit, sondern auch wohlbestimmte Regeln. Diese müssen allerdings so offen sein, dass sie bei jedem konkreten Fall die Vor- und Nachteile abzuwägen erlauben. Für den gegenwärtigen kaukasischen Konflikt fällt die Abwägung nicht schwer:

Auch wenn der georgische Ministerpräsident an der Entwicklung nicht unschuldig ist, können die abtrünnigen georgischen Provinzen Abchasien und Südossetien nicht beanspruchen, die friedlichen Mittel zugunsten ihrer inneren Selbstbestimmung voll ausgeschöpft zu haben. Und wenn es Russland tatsächlich auf den Minderheitenschutz ankäme, hätte es sich wegen seiner zahlreichen Nationalitätenkonflikte im eigenen Land auch in Georgien für eine am Ende friedliche und schiedliche Lösung einsetzen müssen.

Schlüssig?
_________________
Grüße,
Abrazo
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