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Verfasst am: 04.02.06, 16:27 Titel: "Fiskalargumente" als (rechtliche) Begründung
Ein anschauliches Beispiel für "Fiskalargumente" liefert die Entscheidung BGH, GSSt 1/04, 03.03.2005 (Absprache). Dort unternimmt es der BGH, die Zulässigkeit der Absprache im Strafverfahren zu begründen. Als ein wesentliches Argument für die Legitimität des "Deals" führt der BGH wörtlich an:
"Diesen Anforderungen könnten die Organe der Strafrechtsjustiz unter
den gegebenen – rechtlichen wie tatsächlichen – Bedingungen der Strafrechtspflege
ohne die Zulassung von Urteilsabsprachen durch richterrechtliche
Rechtsfortbildung nicht mehr gerecht werden.
Vor allem mit Blick auf die knappen Ressourcen der Justiz
(vgl. dazu den Beschluß der Konferenz der Justizministerinnen
und Justizminister vom 17./18. Juni 2004: „Die Justizministerinnen
und Justizminister weisen erneut darauf hin, daß die Strafjustiz am Rande
ihrer Belastbarkeit arbeitet.“) könnte die Funktionstüchtigkeit der Strafjustiz
nicht gewährleistet werden, wenn es den Gerichten generell untersagt wäre,
sich über den Inhalt des zu verkündenden Urteils mit den Beteiligten abzusprechen.
Jedenfalls soweit sie den dargestellten Mindestanforderungen entsprechen,
ermöglichen es Urteilsabsprachen, den mitunter gegenläufigen Anforderungen
für ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Strafjustiz in ihrer Gesamtheit
Rechnung zu tragen." (Hervorhebungen nicht im Original)
Mich überzeugt dieses "Fiskalargument" nicht. Wie soll ein solches - zumal faktisches - Argument eine rechtliche Begründung liefern können?
Was, wenn die öffentlichen Kassen irgendwann mal wieder voll sind: Wird dann der "Deal" illegitim?
Läßt sich jemand von dem Argument "knappe Ressourcen der Justiz" überzeugen und wenn ja, warum?
Das noch nicht veröffentlichte Urteil zu Ackermann & Co. geht ja in die gleiche Richtung: sinngemäß, es sei nicht hinnehmbar, wenn Wirtschaftsstraftäter nicht oder nur gering bestraft werden, weil der Justiz die Möglichkeiten fehlen, diese komplizierten Sachverhalte zu bearbeiten.
Aber auch - ich weiß jetzt nicht mehr, welches es war - wonach einer irgendwann aus der U-Haft entlassen werden muss, wenn die Gerichte zeitlich nicht zu Potte kommen.
Ich sehe das eher als politische Entscheidung: wenn du, Staat, die Justiz personell und finanziell aushungern lässt, dann sind Schnellgerichte und Haftentlassungen die Folge. Deine Verantwortung.
Imho legt das BHG fest, an welchem Ende auf keinen Fall gespart werden darf, nämlich an der Beweisaufnahme.
Möglicherweise spekuliert der BGH auf eine Klage vor dem BVG oder einem internationalen Gerichtshof. _________________ Grüße,
Abrazo
Aber immerhin hat man zum "Beschleunigungsgrundsatz" noch einen gesetzlichen Anhaltspunkt:
EMRK Art. 6 Recht auf ein faires Verfahren
(1) Jede Person hat ein Recht darauf, daß über Streitigkeiten in bezug auf ihre zivilrechtlichen
Ansprüche und Verpflichtungen oder über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von
einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen
Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.
...
Als besonders kraß - um ein weiteres Beispiel zu nennen - empfinde ich die Begründung zur Neufassung von §§ 303 Abs. 2; 304 Abs. 2 StGB (Graffiti). Sachbeschädigung setzte ja nach bisher h. M. eine Substanzverletzung der Sache voraus. Jetzt nicht mehr.
StGB § 303 Sachbeschädigung
(1) Wer rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zerstört, wird mit
Freiheitsstrafe bis zu zwei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
(2) Ebenso wird bestraft, wer unbefugt das Erscheinungsbild einer fremden Sache nicht
nur unerheblich und nicht nur vorübergehend verändert.
(3) Der Versuch ist strafbar.
Dazu Auszug aus der Begründung zum Gesetzentwurf in BT-Drs. 15/404:
"Fachgutachten ziehen einen finanziellen Aufwand nach
sich, der mehrere Tausend Euro umfassen kann und damit
bereits die Kosten der Schadensbeseitigung übersteigt. Ein
solches Missverhältnis zwischen rechtsstaatlich begründeten
Anforderungen und Erledigungsaufwand steht im Einzelnen
der Durchsetzung eines geordneten Zusammenlebens
in einer freien Gesellschaft entgegen.
...
Der Verzicht auf das Erfordernis der Verletzung der Substanz
der Sache, sei sie hervorgerufen durch die Tat
selbst oder durch die vorzunehmende Reinigung, lässt
aufwändige und kostenintensive Gutachten entfallen."
http://dip.bundestag.de/btd/15/004/1500404.pdf
Auf den Punkt gebracht: Um "aufwändige und kostenintensive Gutachten" zur Frage zu vermeiden, ob ein bestimmtes Verhalten strafbar ist oder nicht, erklärt man es einfach für strafbar. Und spart dabei kräftig an der Beweisaufnahme.
Nö.
Zusammengefasst heißt das doch, was brauchen wir ein Gutachten, Sandstrahlgebläse, Fassadenreparatur, Rechnung an Täter, hätt sich dä Fall.
Aber was hat das mit Strafrecht zu tun?
(Oder will man jetzt daraus auch noch nen Betrug konstruieren, indem dass die Täter oft kein Geld haben für den Schadenersatz? Ersatzweise Schuldturm?) _________________ Grüße,
Abrazo
Das frag ich mich auch. Daß irgendjemand für den Schaden aufkommen muß, ist auch klar. Aber das müßte sich doch zivilrechtlich lösen lassen.
Das "Argument": Jugendlicher "Täter" = Schadensersatzanspruch nicht durchsetzbar, kommt häufig. Aber stimmt das? Jedes Kleinkind hat heute mindestens 2 Handys.
Für mich klingt das ganze wie eine Ersatzfreiheitsstrafe,
StGB § 43 Ersatzfreiheitsstrafe
An die Stelle einer uneinbringlichen Geldstrafe tritt Freiheitsstrafe. ...
mit etwa folgender Modifizierung (die eventuell noch im Unterforum: "Unsachlichkeiten" zu verfeinern wäre: ):
StGB § 43a n. F.
§ 43 gilt entsprechend, wenn eine Tat nach §§ 303 Abs. 2 oder
304 Abs. 2 einen Schadensersatzanspruch gegen den Täter begründet,
der aber nicht oder nicht in voller Höhe durchsetzbar ist.
Hm.
Dann wäre es wohl an der Zeit, dass ich mir über eine Umschulung Gedanken mache. Als Gefängniswärterin im Schuldturm.
In meinen Augen sind das alles Folgen der Arbeitslosigkeit, die nicht nur die Arbeitslosen treffen, sondern auch die, die von ihrem Konsum leben würden, so sie Geld hätten.
Es kann aber nicht Aufgabe der Justiz sein, wirtschaftliche Krise dadurch zu begleiten, dass man denen, die selber knapp sind, wenigstens die Genugtuung verschafft, die, die gar nichts mehr haben, aus purer Rachsucht im Knast zu sehen. Die Abschaffung des alten Racherechtes Auge um Auge, Zahn um Zahn zugunsten zivilisierter Auffassungen darf nicht, je nach konjunktureller Lage, zur Disposition gestellt werden. _________________ Grüße,
Abrazo
Der BGH (siehe Ausgangs-post) packt das Fiskalargument unter die schöne Umschreibung: "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege" bzw. "... Strafjustiz".
Bei Saliger (s. unten) ist von "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als Systemprinzip" die Rede, wobei er gleich die Fußnote anhängt: "13 Krit. zu diesem Rechtsbegriff Hassemer, StV 1982, 275" (S. 9). Wobei mir nicht ganz klar ist, ob sich das "Krit." nur auf "Systemprinzip" oder insgesamt auf "Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als Systemprinzip" bezieht. Ich befürchte ersteres. Wenn ich mal wieder viel Zeit haben sollte, lese ich mal Hassemer.
Saliger, Absprachen im Strafprozess an den Grenzen der Rechtsfortbildung - BGH (GS), NJW 2005, 1440, in: JuS 2006, 8
Alte Philosophin (die das nicht lesen wird) merkt dazu an, die Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege wird nicht erfüllt, wenn nur die Funktionstüchtigkeit des Instrumentes sichergestellt wird, nicht aber der Zweck, dem dieses Instrument dienen soll, nämlich die Strafrechtspflege. _________________ Grüße,
Abrazo
Entschuldigung, "Gast". Ich habe aus Versehen Ihren Beitrag gelöscht.
gast hat folgendes geschrieben::
Letztlich kann das Fiskalargument nie überzeugen, weil innere/äußere Sicherheit und Justiz die Fundamentalaufgabe des freiheitlich-demokratischen Rechtsstaats darstellt. Insofern müßte auch das Haushaltsrecht des Parlaments von Verfassungs wegen eingeschränkt sein, so wie es auch beim Schutz der Menschenwürde der Fall ist (Wenn Menschen nicht mehr auf einer menschenwürdigen materiellen Basis leben können, hilft dem Staat der Einwand leerer Kassen nichts - dafür hat Geld da zu sein).
Leider ist das BVerfG wenig mutig, so daß bald Zustände wie in Italien zu befürchten sind, wo man monatelang auf simpelste Urteile warten muß. Rechtsverzögerung ist Rechtsverweigerung!
Schließlich scheitert das Fiskalargument am Vergleich mit anderen Haushaltspositionen. In NRW z.B. werden die letzten Milliönchen aus dem Justizapparat gequetscht - um den Preis, daß die Qualität der Rechtsprechung ins Bodenlose absinkt, weil einfach kaum noch Richter für die vielen Fälle da sind -, während seit Jahrzehnten Milliardensummen im Bergbau sinnlos versenkt werden.
Das BVerfG sollte sich endlich durchringen, mit Blick auf Art. 19 Abs. 4 GG dem Gesetzgeber verbindliche Fristen aufzugeben, wann Urteile vorzuliegen haben (Beispiel USA: einstweilige Verfügung in 24 Std. - in Deutschland gerne mal ein paar Wochen) und jedes Haushaltsgesetz, das die entsprechenden Mittel nicht vorsieht, für verfassungswidrig zu erklären.
Wenn Menschen nicht mehr auf einer menschenwürdigen materiellen Basis leben können, hilft dem Staat der Einwand leerer Kassen nichts - dafür hat Geld da zu sein
Ganz recht. Einer Privatperson hilft ja im übrigen der Einwand, die Kasse sei leer, auch nichts. "Geld hat man zu haben", lernt man, wenn man sich mit dem Schuldrecht befaßt. Notfalls bleibt (und das muß ja nicht immer schlecht sein, Stichwort: Restschuldbefreiung) das Insolvenzverfahren.
Läßt sich der allgemeine (Rechts-)Grundsatz: "Geld hat man zu haben" nicht auch auf den Staat übertragen?
In diesem Zusammenhang ein Satz des Bundesverfassungsgerichts in einer Entscheidung vom 16.03.2006 zur Fortdauer von Untersuchungshaft:
Zitat:
Es kann nicht hingenommen werden, dass die von Verfassungs wegen gebotene zügige
richterliche Bearbeitung durch eine unzureichende Arbeitserledigung im nicht
richterlichen Bereich, sei sie durch eine unzureichende Personalausstattung oder durch
sonst absehbare und vermeidbare Umstände verursacht, konterkariert wird.
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